2. Wohnen als Menschenrecht

In Art. 11, Nr. 1 der Internationalen Konvention über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte vom 16. Dezember 1966 [8] heißt es: “Die Teilnehmerstaaten dieser Konvention erkennen das Recht eines jeden auf einen angemessenen Lebensstandard für sich und seine Familie einschließlich angemessener ... Wohnung ... an .”[9] Obwohl das Recht auf eine Wohnung nicht im Grundrechte-Katalog des Grundgesetzes aufgeführt ist, wurde es in mehreren Landesverfassungen in der einen oder anderen Form festgeschrieben. [10]
Das ‘Recht auf eine angemessene Wohnung’ wollen wir hier definieren als das Recht auf eine eigene, abgeschlossene Wohnung in ausreichender Größe. Dazu gehören natürlich auch eine intakte Infrastruktur und Möglichkeiten, am gesellschaftlichen - kulturellen, sozialen und politischen - Leben teilzunehmen. Dieses Recht soll gelten für alle Lebens- und Wirtschaftsgemeinschaften sowie Individuen, unabhängig von Geschlecht, Nationalität, Alter, Konfession und Lebensweise. [11] Ausdrücklich sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, daß das Menschenrecht auf Wohnung durch die Unterbringung in Obdachlosenasylen, Heimen oder Behelfsunterkünften nicht verwirklicht wird. [12]
Natürlich wird dieses Recht dort zur Farce, wo Menschen aufgrund ihres Einkommens überhaupt keine oder nur geringe Chancen haben, eine angemessene und für sie bezahlbare Wohnung zu finden. Zur Verwirklichung dieses Rechts muß also zunächst die entsprechende materielle Basis geschaffen werden. Dazu gehört nach Meinung von Fachleuten mindestens der Neubau von preiswerten Wohnungen - und zwar in beträchtlichem Umfang. [13]
Und bereits an dieser Stelle kollidiert das in internationalen Konventionen, Landesverfassungen u.ä. festgeschriebene Recht auf eine Wohnung mit dem in der kapitalistischen BRD ebenfalls garantierten Recht, [14] mit Hilfe von Wohnungseigentum Vermögen zu bilden und zu mehren.
Die Wohnung ist also - zumindest im Kapitalismus - dreierlei:

  1. ein menschliches Grundbedürfnis,
  2. ein bis zum heutigen Tag nicht verwirklichtes Menschenrecht [15] und
  3. ein Mittel zur Mehrung des Vermögens.

Welcher Stellenwert jedem der drei Punkte eingeräumt wird, mag die folgende Äußerung des Ministerpräsidenten von Sachsen, Prof. Kurt Biedenkopf (CDU), etwas deutlicher machen:
“Da dieses Phänomen [gemeint ist die Vererbung und der Neubau von Immobilien; d.V.] massenhaft auftritt, werden die Preise sinken und eine Fülle der Immobilien, in die wir jetzt einen wesentlichen Teil unseres Volksvermögens investiert haben, werden keine Erträge mehr bringen, sondern totes Vermögen sein. Vor dem Hintergrund hätte ich nicht den Mut, die Leute aufzufordern, zur Behebung der Wohnungsnot auch im Jahr 1994 und 1995 je 40 Quadratkilometer Wohnfläche zu bauen .”[16]
Die Verwirklichung des Menschenrechts auf eine Wohnung hat in der BRD eine geringere Bedeutung als die Garantie des Privateigentums an Wohnungen zur Ertragssteigerung und Vermögensbildung.
Marx beschreibt Rechtsverhältnisse grundsätzlich als Produkt der ökonomischen Struktur der Gesellschaft:
“Rechtsverhältnisse wie Staatsformen [sind] weder aus sich selbst zu begreifen (...) noch aus der sogenannten allgemeinen Entwicklung des menschlichen Geistes, sondern [wurzeln] vielmehr in den materiellen Lebensverhältnissen (...), deren Gesamtheit Hegel (...) unter dem Namen ‘bürgerliche Gesellschaft’ zusammenfaßt, daß aber die Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft in der politischen Ökonomie zu suchen sei. (...) Die Gesamtheit (...) [der] Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt, und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewußtseinsformen entsprechen .”[17]
Die ökonomische Struktur der Gesellschaft in der BRD ist eine kapitalistische. Daß heißt, sie basiert auf dem Privateigentum an Produktionsmitteln. Daraus folgt die Verankerung des Eigentums im Grundgesetz. Diese rechtliche Fixierung des Privateigentums an Produktionsmitteln wird auf das Privateigentum an Wohnungen übertragen. Damit basiert das Privateigentum an Wohnungen, im Gegensatz zum Menschenrecht auf eine Wohnung, letztlich auf derselben ökonomischen Struktur der Gesellschaft. Das Recht dient dabei grundsätzlich dem Schutz der bestehenden Eigentumsverhältnisse. [18]


[8] Von der Bundesregierung am 9.10.1968 unterzeichnet, ratifiziert am 17.12.1973.
[9] PDS/Linke Liste im Bundestag, Wohnen ist Menschenrecht, S. 12.
[10] Das betrifft z.B. die Bundesländer Berlin (Art. 19 [1]), Bayern (Art. 106 [1]) und Brandenburg (Art. 46 [1]).
[11] Dies schließt die Forderung an den Gesetzgeber mit ein, für andere Wohnformen bzw. Formen des Zusammenlebens - wie Wohngemeinschaften, Paare ohne Trauschein etc. - die gleichen gesetzlichen Grundlagen zu schaffen, wie etwa für verheiratete Partner (mit und ohne Kinder), Alleinstehende etc.
[12] Vgl. PDS/Linke Liste im Bundestag, Wohnen ist Menschenrecht, S. 11.
[13] Vgl. ebenda, S. 17 ff.: Zur mittelfristigen Beseitigung der Wohnungsnot müßten jährlich 500.000 bis 600.000 Wohnungen (das entspricht einem Nettozugang von rund 200.000 Wohnungen) gebaut werden.
[14] Vgl. Art. 14 (1) Grundgesetz: “Das Eigentum und das Erbrecht werden gewährleistet.” sowie BGB §§ 535 ff. (mietrechtliche Regelungen).
[15] Recht soll hier definiert werden als als juristische Ausdrucksform der herrschenden materiellen Bedingungen. Es stimmt zwar, daß Recht im Kapitalismus primär die Aufgabe hat, “solche Verhaltensregeln durchzusetzen, die den Bestand der herrschenden Eigentumsverhältnisse gewährleisten.” Allerdings existieren auch Gesetzesnormen, deren Aufnahme in den bestehenden Katalog bürgerlicher Rechte (GG, BGB etc.) mit Hilfe von sozialen Kämpfen durchgesetzt werden konnte. Die Annahme eines neuen Gesetzes garantiert jedoch nicht automatisch dessen materielle Verwirklichung, vgl. Fiedler, F. u.a., Dialektischer und historischer Materialismus, S. 396 ff.
[16] ‘Wohnen mehr als Ware’ Rede von K. Biedenkopf, DAB 4/94 BAK in: PDS/Linke Liste im Bundestag, Wohnen ist Menschenrecht, S. 19.
[17] Marx, K., Engels, F., Ausgewählte Werke Band II, S. 502 ff.
[18] Nach Engels ist die Wohnungsnot “der Arbeiter und eines Teils der Kleinbürger unserer modernen großen Städte (...) einer der zahllosen kleineren, sekundären Übelstände, die aus der heutigen kapitalistischen Produktionsweise hervorgehen. Sie ist durchaus nicht eine direkte Folge der Ausbeutung des Arbeiters, als Arbeiter durch den Kapitalisten. (...) Der Eckstein der kapitalistischen Produktionsweise aber ist die Tatsache: daß unsere jetzige Gesellschaftsordnung den Kapitalisten in den Stand setzt, die Arbeitskraft des Arbeiters zu ihrem Wert zu kaufen, aber weit mehr als ihren Wert aus ihr herauszuschlagen, indem er den Arbeiter länger arbeiten läßt, als zur Wiedererzeugung [Reproduktion; d.V.] des für die Arbeitskraft gezahlten Preises nötig ist”, Marx, K., Engels, F., Ausgewählte Werke,
Band IV, S. 194.
Die Wohnungsfrage ist für Marx und Engels also eine sekundäre Frage, die sie dem ökonomischen Grundwiderspruch des Kapitalismus unterordnen. Die Frage der politischen Bedeutung der Wohnungsfrage im marxistischen Kontext bleibt damit offen: Wenn der Grundwiderspruch der zwischen Kapital und Arbeit ist, und revolutionäre Politik aus diesem Widerspruch hervorgeht, Wohnungseigentum auf der anderen Seite aber kein Kapital im marxistischen Sinne ist, machen dann unter dieser Prämisse Wohnungskämpfe im Rahmen einer revolutionären Politik Sinn oder nicht?
Die ‘traditionelle’ Antwort - z.B. der DKP - war, wie im Bezug auf jede soziale Bewegung, daß jegliche Interessenvertretungspolitik die Aktivität der Bevölkerung, für die eigenen Interessen einzutreten, stärkt und sie damit einen Schritt näher dahin bringt, daß sie ihre Interessen als ArbeiterInnen gegenüber dem Kapital in die Hände nehmen. Wie die Geschichte vor allem der letzten Jahre gezeigt hat, ist diese Strategie nicht aufgegangen. Wir können diese Frage im Rahmen unserer Arbeit auch nicht erschöpfend behandeln, werden uns jedoch im Fazit mit der Einordnung von Wohnungskämpfen in eine linke Gesamtstrategie befassen.


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